Kapitel 2: Der Plan

"Milo!"

Milo lag in seinem Bett. Er tauchte aus seiner Traumwelt auf, gestört von einem weiteren eindringlichen Ruf. Er wußte noch gar nicht wie oft der Ruf schon ertönt war, aber nun war er in seine Träume durchgedrungen. Milo rieb sich die schweren Augen. Sie ließen sich gar nicht richtig öffnen. Wer war es nur, der ihn so schimpflich aus seinem Schlaf riss? Milo schielte unter einem Auge zur Quelle der Störung. Es war Temeo. Milo seufzte und setzte sich auf.

"Was machst du hier, Temeo?" fragte er, nun mit zwei offenen Augen.

"Ich habe Angst!" sagte sein jüngerer Bruder.

"Ach Temeo." sagte Milo beruhigend.

Er ließ ihn unter seine Bettdecke kriechen. Die Eltern hatten mittlerweile kein Verständnis mehr für Temeos nächtliche Angst und schickten ihn wieder in sein Bett, wenn er zu ihnen kam. Deshalb ging Temeo gleich zu seinem Bruder. In Milo wußte er jemanden, der ihn Ernst nahm. Temeo war sehr zart und von eher ängstlicher Natur. Und die Dunkelheit, die hier jeder für selbstverständlich hielt, machte Temeo schwer zu schaffen. Es gab zwar Unterschiede zwischen Tag und Nacht, aber tagsüber war es so dunkel, wie an einem dunklen Herbsttag, wenn der Nebel so dick ist, dass man seinen direkten Nachbarn nur noch als vagen Schatten sehen kann. Ganz selten wurde es mal heller, wenn der Nebel sich ein wenig lichtete. Dann konnte man auch die anderen Wälder und die Umgebung sehen. Aber die Sonne hatte Milo noch nie gesehen, seit er geboren wurde. Einmal hatte er seine Schwester gefragt. Sie sagte, dass auch sie noch nie die Sonne gesehen hatte, aber er könne doch mal Mama und Papa fragen. Also ging Milo zu seinen Eltern, doch auch sie sagten, dass sie noch nie die Sonne gesehen hatten. Für Milo war das Beweis genug, dass sie schon seit unzählig langen Zeiten nicht mehr geschienen hatte.

"Sind es schon wieder die Schnappwesen?" fragte Milo.

Temeo nickte. Milo wußte, dass diese Wesen nur in Temeos Träumen auftauchten, aber diese waren sehr intensiv. Noch schlimmer war, dass Temeo mit seiner ängstlichen Phantasie die Schnappwesen einfach überall sah, auch dann, wenn er nicht von ihnen träumte. Dünn und krank war Temeo geworden, weil er sich so elend fühlte. Von den Eltern nicht verstanden zu werden, ja sogar beschimpft zu werden, weil man Angst hatte, war für Temeo nicht hilfreich.

"Ach Temeo!" sagte Milo wieder. "Wo ist denn Plauri?"

Temeo schniefte und holte ein Kissen unter der Decke hervor. Milo hatte es für ihn genäht nach der Vorlage der Fnuckis. Temeo liebte diese kleinen Tiere über alles. Sie hatten eine große Nase, einen flachen, runden Körper und hinten dran einen wackelnden, rund-flachen Schwanz mit Loch in der Mitte. Ihre kleinen Trippelfüße hinterließen immer so lustige Spuren im Garten. Milo schenkte Temeo Plauri mit den Worten: "Das ist Plauri. Er ist ein mutiges Fnucki und er ist ein Experte im Vertreiben von Schnappwesen." Temeo liebte Plauri vom ersten Tag an und seit er das Kuscheltier hatte, schlief er etwas besser. Doch nach wie vor stand der kleine Bruder vor Milos Bett, wenn er nachts beängstigende Träume hatte.

"Plauri konnte aber nur drei verteiben." nuschelte Temeo kleinlaut in die Decke.

"Ist schon gut, Temeo. Bleib bei mir. Ich habe genug Platz für dich und Plauri." sagte Milo.

Er war so traurig und wütend. Traurig, weil er seinem Bruder nicht helfen konnte und wütend, weil seine Eltern, die es tun sollten, ihren Sohn nur ausschimpften und seine Ängste nicht im mindesten Ernst nahmen. Temeo seufzte erleichtert und kuschelte seine Füßchen an Milos Füßchen. Beide schliefen nach einiger Zeit wieder ein. Die Nacht verlief dann ohne weitere Zwischenfälle.


Am nächsten Morgen wurden Temeo und Milo von Hera geweckt. Die große Schwester kannte diesen Anblick schon so gut und sie sagte den Eltern nichts, denn auch ihr tat Temeo leid. Sie konnte seine Ängste zwar nicht nach empfinden, aber wenn die Eltern schimpften hatte sie ein großes Gefühl der Ungerechtigkeit in sich. Milo und Temeo schlurften ins Badezimmer und zogen sich um. Das kalte Wasser machte sie wach und erfrischt gingen sie hinunter in die Küche.

"Da seid ihr ja." sagte ihre Mutter erfreut.

Ein wunderbar duftender Topf mit Fuschbrei stand auf dem Tisch. Die drei Geschwister setzten sich und nahmen sich die Teller voll und begannen zu essen. Ged, der Vater, kam von draußen rein, und ein kalter Wind wehte durch die Eingangstür, ehe sie schnell wieder geschlossen wurde. Temeo fröstelte und sah Milo ängstlich an. Milo wußte, dass Temeo dachte in der Kälte kämen die Schnappwesen. Milo bezeigte Temeo stumm, dass er nichts sagen sollte. Ged stapfte zum Tisch und ließ sich schniefend auf seinem Stuhl nieder.

"Na Kinder!?" meinte er. "Habt ihr gut geschlafen?"

Milo und Hera nickten stumm und löffelten ihren Brei. Leider, bevor Milo ihn daran hindern konnte begann Temeo von seiner Nacht zu erzählen.

"Da waren wieder Schnapp... Milo!" empörte Temeo sich.

Milo hatte unter dem Tisch mit einem seiner Füßchen mit den Zehen Temeo in den Bauch gekniffen. Doch leider hatten die Eltern wieder zu viel mitbekommen.

"Oh, Temeo. Nicht schon wieder deine Geschichten. Wie oft müssen wir dir denn noch erzählen, dass es deine komischen Wesen nicht gibt." schimpfte die Mutter sofort los.

Temeo sank kleinlaut in sich zusammen und biss sich ärgerlich auf die Lippen. Wieso dachte er nie nach, bevor er etwas sagte? Er sah nicht zu seinen Eltern, versuchte sie auszublenden.

"Temeo!" rief seine Mutter streng. "Du sollst mich ansehen, wenn ich mit dir rede!"

Doch der Junge schaute nicht. Ged sah seine Frau an und schüttelte den Kopf. Er hielt es für hoffnungslos seinem Sohn zu erklären, dass es Schnappwesen nicht gab. Deswegen hielt er jegliche Aufregung für unnötig. Seine Frau versuchte immer noch durch Strenge Temeo von seinen Schnappwesen abzubringen. Sie hatten es mit Verständnis versucht, aber dass hatte nur dazu geführt, daß Temeos Phantasie immer schlimmere Wesen hervor brachte. Nein, Verständnis hatte Ged für seinen Sohn nicht mehr. Das mußte doch mal aufhören, doch es ging schon seit Jahren so. Aber schimpfen wollte Ged nicht mehr. Er seufzte. Temeo erhob sich stumm, man konnte die Tränen in seinen Augen sehen.

"Temeo! Du gehst jetzt nicht raus. Erst hörst du mir zu!"

Temeo lenkte seine kleinen Schrittchen weiter zur Tür. Wie oft hatte er die Worte seiner Mutter gehört, aber sie halfen ihm nicht. Er konnte sie einfach nicht aus seinem Kopf kriegen.

"Temeo!" erbost setzte seine Mutter ihm nach und hielt ihn am Arm zurück.

Eh sich Temeo versah hatte sie ihm ins Gesicht geschlagen. Da sprang Milo auf. Jetzt reichte es ihm. All den Ärger seiner Eltern über Temeo hatte er noch hingenommen. Aber das ging zu weit.

"Du gemeine Mama!" rief er.

Entsetzt sahen seine Eltern ihn an.

"Milo!" rief sein Vater. "Du entschuldigst dich!"

"Das werde ich nicht tun!" trotzig stemmte er die Hände in die Seiten.

"Milo!"

Sein Vater war aufgestanden und sah seinen Sohn zornig an. Milo schaute genauso zornig zurück.

"Mama ist zu weit gegangen. Temeo kann doch nichts dafür. Er träumt halt davon, er kann es doch nicht abstellen, auch wenn er es so gerne möchte. Glaubt ihr er findet es toll!? Aber ihr helft ihm ja nicht einmal. Stattdessen schimpft ihr mit ihm. Und jetzt auch noch das! Wie kannst du nur einen von uns schlagen, Mutter!"

Noch bevor seine Eltern auf irgendeine Art reagieren konnten lief Milo, so schnell ihn seine kleinen Füße tragen konnten aus der Küche und rannte auf den Weg, der zum Dorfplatz führte. Er war so aufgebracht, daß er noch nicht einmal Worte fand um Temeo zu beruhigen. Deswegen war er gleich weg gelaufen und er wußte nur einen Freund, dem er sich jetzt noch anvertrauen konnte. Das war der alte Olm. Ohne darüber nachzudenken trugen ihn die zehn Füßchen zu dessen kleiner Kladreizwohnung. Milo stürmte durch die Tür und ließ sich auf den Sack fallen, auf dem er immer saß, wenn Olm ihm Geschichten erzählte. Der alte Sockitotte schaute überrascht auf ihn.

"Milo." meinte Olm. "Was tust du hier?"

Milo murmelte zornig vor sich hin. Olm ahnte, daß zu Hause etwas vorgefallen sein mußte. Milo mußte sich wohl erstmal sammeln. Ruhig machte er sich daran einen warmen Tee zu bereiten. Dabei summte er eine leise Melodie. Milo schniefte, schließlich begann er zu weinen. Olm setzte sich steif zu ihm und legte ihm einen Arm um die Schulter.

"Na?" meinte der Alte. "Was war denn los?"

Beruhigend summte Olm weiter. Milo schluchzte noch ein paar mal, dann schaute er Olm mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Zorn an.

"Diese blöde Dunkelheit ist an allem Schuld. Aber wieso stört es denn sonst keinen, daß seit so vielen Jahren niemand mehr die Sonne gesehen hat!?" fauchte er.

Olm ahnte, daß es um Temeos Träume ging. Der Alte nickte.

"Ja, ja... die Dunkelheit."

Ein wenig schweifte Olm mit seinem Gedanken ab, schüttelte aber den Kopf, um sich wieder ganz Milos Problemen widmen zu können.

"Gab es wieder Ärger für Temeo?" fragte er mit seiner warmen, ein wenig rau klingenden Stimme. Milo nickte.

"Mutter hat ihn geschlagen!" empörte sich der kleine Sockitotte und war dabei vom Sack aufgesprungen.

Olm konnte über dieser Nachricht Milos Ärger verstehen. Eine Pause entstand, in der der Kleine immer noch aufgebracht hin und her lief. Er konnte das Geschehene nach wie vor nicht einordnen. Niemals hatten seine Eltern ihre Hand gegen einen von ihnen erhoben. Und sie alle drei hatten schon so einiges ausgefressen. Doch immer genügte ein Blick der Eltern, enttäuscht oder streng und ein scharfes Wort und die Kinder bereuten ihre Tat. Und jetzt.... nur wegen dieser bescheuerten Träume, hatten seine Eltern solch einen Aufstand gemacht, hatte seine Mutter etwas getan, was er, Milo, ihr niemals zugetraut hatte. Sie hatte ihn und Hera und Temeo doch lieb. Wie konnte sie einen von ihnen dann schlagen!? In Milo kämpften Zweifel gegen Gewißheiten. Erst allmählich spürte er Olms ruhige Blicke auf sich ruhen. Milo stoppte seinen Rundgang und schaute den alten Sockitotten an.

"Ich kann das nicht verstehen, Olm." sagte Milo ratlos. "Hat sie uns nicht mehr lieb?"

Olm bedeutete Milo sich zu setzen. Widerwillig kam der Junge der Aufforderung nach.

"Ich weiß, daß deine Mutter euch lieb hat."

Milo schaute Olm zweifelnd an. Noch bevor er etwas erwidern konnte fuhr Olm fort.

"Das was geschehen ist, geschah durch Hilflosigkeit."

Der Zweifel in Milos Blick wich einer gewissen Irritation. Aber es waren doch Erwachsene. Die waren nicht hilflos.

"Milo. Ob du es glaubst oder nicht," meinte Olm, "aber deine Mutter ist hilflos. Sie weiß sich keinen Rat mehr. Wie soll sie Temeo helfen?"

Milo holte Luft um einzuwerfen, daß sie Temeo so jedenfalls nicht helfen konnte. Olm redete schnell weiter.

"Als sie Temeo versuchte durch Verständnis zu helfen, da war sie ausgelaugt und müde, denn Temeo hielt sie jede Nacht lange wach und es wurde immer schlimmer. Sie ist der Meinung, daß Verständnis nicht hilft und nun versucht sie es auf diese Weise. Sie will Temeo diese Phantasien weg nehmen. Sie weiß nicht, daß es Dinge gibt, die sie nicht weg nehmen kann."

Olm legte eine Pause ein. Milo sah ihn mit merkwürdigen Gefühlen an. Was meinte der Alte denn nun damit wieder. Immer machte er so mysteriöse Andeutungen. Olm trank einen großen Schluck von seinem Tee.

"Ich könnte dir erzählen, daß es nicht nur Phantasien von Temeo sind." murmelte er kaum hörbar.

Erst einige Augenblicke später weiteten sich Milos Augen, als er Olms Worte verstanden hatte.

"Was meinst du denn!? Es sind doch nur Träume. Hera und ich waren uns da einig. Niemand kennt Wesen, wie sie Temeo beschreibt."

Olm sah ihn mit wissendem Blick von der Seite an. Milo schüttelte den Kopf.

"Nein, Olm!" er lächelte ungläubig. "Temeos Wesen gibt es nicht. Ich meine... hast du dir das schon mal vorgestellt, was er beschreibt!? Das kann es nicht geben."

Olm erhob sich schnaufend, goß sich neuen Tee ein und setzte sich wieder. Versonnen schaute er vor sich hin. Die Stille war fast unerträglich für Milo. Als er meinte, daß er nicht mehr abwarten könnte, begann Olm eine seiner Geschichten.

"Die Sonne verschwand ganz plötzlich. Von einem Tag auf den anderen war sie nicht mehr da. Viula dachte sich erstmal nichts dabei, schließlich gab es ja die kalte Zeit, in der die Sonne oft durch Wolken verhangen ist. Doch die Monate vergingen und die Sonne kam nicht wieder. Keinen schien es zu stören, daß selbst in der warmen Zeit die Sonne nicht mehr zu sehen war. Viula beunruhigte es aber. Niemand wollte auf sie hören, nicht einmal, als das Fusch trocken wurde, die Brillverzbüsche sich veränderten und unsere Kladreizwälder begannen auseinander zu fallen. Und so begann Viula zu forschen und um diese Zeit war es, daß auf einmal Sockitotten spurlos verschwanden. Viula spürte beunruhigende Dinge, die um das Dorf wanderten. Sie trauten sich nicht herein, doch wenn sich ein Sockitotte alleine außerhalb des Dorfes aufhielt, dann kam er meist nicht mehr zurück. Alle begannen die Schuld auf die anderen Völker zu schieben, die Vuschvuzel und die Pormaes. Und so zerstritten sie sich. Die Dunkle Zeit war angebrochen. Streit, Mißtrauen, Neid und Unverständnis beherrschten alles und Viula faßte den Entschluß sich aufzumachen, um einen Weg zu finden die Dunkelheit zu vertreiben."

Olm machte eine Pause, um Luft zu holen und mit einem Schluck Tee seinen trockenen Hals zu befeuchten. Milo hatte seine zehn Füßchen zusammengeknotet und pulte gedankenverloren an den Zehen eines Fußes herum. Die Geschichte von Olm gefiel ihm nicht so gut wie die anderen, die er erzählte. Diese hier war so dunkel und geheimnisvoll, sie beunruhigte ihn. Als Olm nicht fort fuhr mit seiner Erzählung, sagte Milo schließlich:

"Die Geschichte mag ich nicht. Kannst du nicht wieder eine über die Sonne erzählen?"

"Das ist keine Geschichte wie die anderen." erwiderte Olm ein wenig traurig.

Milo stockte und zuckte beängstigt zusammen.

"Nicht?" fragte er.

Nach einem weiteren Schluck fuhr der alte Sockitotte fort.

"Viula war meine Frau." sagte er und sah Milo unverwandt in die Augen.

Milo meinte sich verhört zu haben und nur langsam begann sein Kopf zu verstehen, daß wenn Viula Olms Frau war, diese Geschichte nichts Ausgedachtes war, sondern wirklich passiert war. Und wenn es wirklich so geschehen war, dann gab es Merkwürdiges, daß sich außerhalb der Dörfer aufhielt und einsame Sockitotten jagte. Und wie ein sengender Blitz schoß es durch Milos Kopf, daß es sich bei diesem Merkwürdigen um Temeos Schnappwesen handelte.

"Nein!" rief Milo energisch und wollte vom Sack aufspringen.

Weil er jedoch seine Füßchen verknotet hatte, stolperte er und fiel auf Olms nahestehenden Tisch. Die Teekanne polterte zu Boden und eine Pfütze breitete sich auf dem Boden aus.

"Sachte mein Kleiner!" schmunzelte Olm und half Milo wieder auf. Ruhig nahm er ein Handtuch und wischte die Pfütze weg, nahm die Kanne vom Boden und bereitete einen neuen Tee zu. Milo, der sich wieder gesetzt hatte, kratzte sich verlegen mit einem seiner Füßchen hinter einem der anderen Füße. Aber seine neuen Erkenntnisse ließen ihn jetzt nicht mehr los.

"Olm!" Milo knetete vor Aufregung seine Hände. "Ich verstehe das nicht... was ist denn nur geschehen? Und wie kamen sie? Und was können wir tun? Können wir was tun? Und..."

"Nun mal langsam." fiel ihm Olm ins Wort. "Ich kann dir auch nicht mehr erzählen, als was du jetzt weißt. Und tun können wir nicht viel, du am aller wenigsten. Außerhalb des Dorfes jagen uns die Wesen. Und du bist noch viel zu jung."

"Aber so geht das nicht weiter!" rief Milo aus und schmiß beim Aufspringen schon wieder die Teekanne zu Boden. Olm schmunzelte erneut. Der Junge war so lebhaft.

"Was denkst du denn, was du tun könntest?" fragte Olm.

"Die anderen müssen das wissen. Wenn sie die Wahrheit kennen, dann gehen bestimmt viele los, um die Ursache für das Verschwinden der Sonne zu suchen."

Olm lächelte ihn väterlich an. Er bedeutete Milo sich wieder zu setzen und widerwillig kam Milo der Aufforderung nach.

"Die anderen wollen die Wahrheit nicht wissen. Sie sind so verbohrt in ihre Erklärungen, die sich seit Verschwinden der Sonne immer mehr aufgebauscht haben und immer verworrener werden. Ich habe es einmal versucht und habe deswegen meine Stellung als Dorfvorsteher verloren. Seit dem belächeln mich die anderen und denken, ich bin auf meine alten Tage etwas wirr im Kopf geworden."

"Aber... aber wenn Temeo die Schnappwesen sieht, dann bedeutet das doch, daß sie auch im Dorf sind, denn Temeo war noch nie draußen." Milo schluckte schwer. "Und wenn sie im Dorf sind... wer weiß was sie uns tun können."

"Sie tun uns nur etwas, wenn wir draußen sind, allein! Es gab schon vor Temeo Kinder, die sie sehen konnten und im Dorf ist noch niemandem etwas passiert."

Es entstand eine Pause. Milo war so verwirrt. Er hatte große Probleme seine durcheinander fliegenden Gedanken zu ordnen und sein Herz, das in großer Wallung war, wieder zu beruhigen. Seine kleinen Füße klopften einen Rhythmus auf den Boden, ohne daß er es merkte. Es gab also tatsächlich die Wesen, aus Temeos Träumen... oder naja, es waren ja dann gar keine Träume. Es war alles echt. Und sie kamen mit der Dunkelheit. Wenn man also die Schnappwesen bekämpfen wollte, so mußte man herausfinden, warum die Sonne nicht mehr schien. Die einzige Möglichkeit, um Temeo seine Angst zu nehmen.

*Ja,* so dachte Milo und tippte sich mit dem Finger an seine große Nase, *die einzige Möglichkeit damit mein Bruder nicht mehr leiden muß.*

"Was brütest du denn aus?" holte Olm Milo aus seinen Gedanken zurück.

Milo schrak ein wenig auf. Er fühlte sich ertappt. Olm wäre dagegen, daß wußte der kleine Sockitotte.

"Ich brüte nichts aus!" erwiderte Milo so unbeschwert wie möglich.

Erst jetzt bemerkte er seinen tippenden Finger und schob die Hand schnell und mit unschuldiger Miene unter seinen Po. Olm sah ihn ernst an.

"Ehrlich!" rief Milo aus.

Olm kannte Milo zu gut und wußte, daß der Junge dabei war einen Plan aus zu hecken. Er bekam große Angst um ihn. Er könnte sofort zu Ged und Kale gehen und sie warnen. Aber ihm gefiel dieser Gedanke genauso wenig, wie der, daß Milo vielleicht alleine ausziehen wollte, um das Geheimnis der dunkeln Sonne zu klären. So oft war Milo bei ihm und weinte sich wegen Temeo bei ihm aus, daß Temeo ihm schrecklich Leid tat, weil er doch nichts dafür konnte, daß er mehr sah, als alle anderen Sockitotten. Es wäre wunderbar, könnte Temeo geholfen werden. Aber dafür sollte sich doch nicht Milo in Gefahr begeben. Wenn überhaupt wäre es Aufgabe des Dorfvorstehers und seiner Berater, wäre es Geds Aufgabe. Doch sie würden nicht für etwas gehen, daß sie nicht für echt hielten. Olm wußte, daß er Kale und Ged nichts sagen würde und er fühlte sich schlecht dabei, denn so billigte er stillschweigend Milos Plan, obwohl er den kleinen doch vor Gefahren behüten sollte. Schweigend erhob sich Olm und streichelte Milo liebevoll den Kopf.

"Paß auf dich auf!" sagte er nur und schlurfte müde aus der Hütte.

Er mußte in seinen Garten und seine Gedanken ordnen. Konnte er Milo denn nicht helfen?

Milo unterdessen tippelte aus Olms Hütte und machte einen Umweg, um nicht zur Vordertür ins eigene Haus zu kommen. Nachdem er seine Mutter beschimpft hatte, wollte er seinen Eltern jetzt lieber nicht über den Weg laufen. Schon gar nicht, wo er diesen gefährlichen Plan ausgeheckt hatte. Er schlich sich leise durch die Gartentür in den Flur und in geduckter Haltung zu seinem Zimmer. Dort saß er auf dem Bett und dachte nach und das tat er den Rest des Tages.